Dürfen Behörden in Krisenkommunikationen lügen, sofern sie vage bleiben?

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In Österreich dürfen Behörden in Krisenkommunikation offensichtlich falsch informieren, sofern sie dabei vage und vorsichtig formulieren. Zu diesem Schluss gelangt man unweigerlich bei näherer Betrachtung der OGH Urteile über die Krisenkommunikation rund um Ischgl. Salopp formuliert, lautet die Botschaft des OGH an die Behörden und ihren Krisenkommunikationen:

solange ihr unpräzise bleibt, seid ihr rechtlich aus dem Schneider, selbst wenn ihr nachweislich die Unwahrheit behauptet.

Konkret geht es um die Presseinformation des Landes Tirol am 5. März 2020 über die covid-erkrankten Isländer, die gleich neun Fehler und Falschinformationen aufweist. Diese Presseinformation wurde vom Oberste Gerichtshof (OGH) zwar als falsch und irreführend eingestuft. Dennoch sah der OGH darin keinen Grund für eine Amtshaftung des Staates gegeben. Denn er lehnte eine Amtshaftung allein schon aus rein formalrechtlichen Gründen ab. Daher untersuchte er auch nicht weiter, ob es in Zusammenhang mit dieser Pressemitteilung ein Fehlverhalten der Behörden in Tirol gegeben hat. Diese Frage ließ er offen.

Die formalrechtlichen Gründe, warum sie ein Amtshaftung ablehnen, erläutern die Höchstrichter in ihrem Urteil vom 15.5.2023 (Ob 199/22d), auf das sie in ihrem Urteil über den tragischen Tod des Ex-Furche-Redakteurs Hannes Schopf (1 Ob 219/22w vom 27.6.2023) verweisen. In dieser Pressemitteilung sei kein „relevanter Vertrauenstatbestand gesetzt“ worden befand der OGH und begründete dies wie folgt.

Wörtliches Zitat (Hervorhebungen Lydia Ninz)

[191] (a) Die Medienmitteilung vom 5. 3. 2020 war insofern nicht richtig, als den Behörden zum Zeitpunkt ihrer Verlautbarung aufgrund des E-Mails des Gesundheitsministeriums von 15:58 Uhr bereits ein Anhaltspunkt dafür vorlag, dass (jedenfalls) bei einem der isländischen Gäste bereits vor dem Heimflug Symptome aufgetreten waren („return 1.3. via München – two cases. 1 symptom onset 26.2.“). [192] Damit ist zu klären, ob und welchen Vertrauenstatbestand die Medienmitteilung vom 5. 3. 2020 geschaffen hat. Eine Aussage über das tatsächliche Ansteckungsrisiko in Ischgl traf die Mitteilung nicht. Ihr konnte nur entnommen werden, dass mehrere isländische Urlauber, die nach ihrer Rückkehr aus dem „Tiroler Oberland“ positiv auf das Coronavirus getestet worden waren, sich erst beim Rückflug im Flugzeug angesteckt haben dürften. Die Einschätzung des Landessanitätsdirektors, es erscheine aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen sei, steht explizit „unter dieser Annahme“. Insgesamt ist die im Konjunktiv gehaltene Mitteilung vorsichtig und vage formuliert. Weder wird die Zahl der tatsächlich infizierten Personen („mehrere“) genannt noch der Ort Ischgl konkret erwähnt. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die geäußerte Vermutung auf ersten Erhebungen und einer schriftlichen Information durch einen Betroffenen beruhe und dass derzeit weitere behördliche Abklärungen stattfänden

OGH Urteil  (Ob 199/22d vom 15.5.2023)

Interpretation:

Der OGH kannte das besagte E-mail des österreichischen Gesundheitsministeriums von 15:58 und  wußte über die tatsächliche Zahl der covidkranken Isländer bestens Bescheid, die darin ganz genau festgehalten wurde: 14 an der Zahl!

Das Bild zeigt die vom Gesundheitsministerium verfasste E-mail vom 05. März 2020 15:58 
Absender, Empfänger sowie Namen wurden geschwärzt.

Dass in der Presseaussendung des Landes Tirol – faktenwidrig – lediglich von „mehreren“ Covid-Fällen berichtet wurde, stört den OGH offensichtlich nicht. 14 Erkrankte sind nicht „mehrere von 14“, sondern „14“! Dass die Zahl der Betroffenen wissentlich heruntergespielt wird, würden wir in der Umgangssprache als Lüge bezeichnen.

Ausgerechnet in einer Krisenkommunikation, in der es um eine drohende Ansteckungs-Gefahr geht, das Ausmaß dieser Gefahr bewusst herunterzuspielen, ist nicht zielführend, wenn es darum geht, eine Ausdehnung des Krisenherdes zu verhindern. Diese Unwahrheit war für den OGH in seiner Urteilsfindung offenbar nicht relevant, obwohl der OGH diese Lüge aufgrund der ihm vor liegenden Dokumente (E-mail von 15:58) durchschauen musste. 

Damit nicht genug. Das besagte E-mail des Gesundheitsministeriums liefert nicht nur einen Anhaltspunkt dafür, dass ein isländischer Gast schon vor seinem Heimflug erkrankt ist, sondern stellt dies als eine Tatsache fest.

In diesem E-mail des österreichischen Gesundheitsministeriums wird ja die offizielle Mitteilung der isländischen Gesundheitsbehörde weitergeleitet, welche  die erkrankten 14 Isländer amtlich auf Covid-19 positiv getestet und bei ihnen das Contact-Tracing bei durchgeführt hatte.

Dass es zwischen einem (unsicheren) Anhaltspunkt und einer (festgestellten) Tatsache einen rechtlich relevanten Unterschied gibt, dürfte selbst Nicht-Juristen klar sein.

Zurück zum OGH-Urteil betreffend dieser Pressemitteilung, die noch einen weiteren spannenden Punkt anschneidet:

Wörtliches Zitat (Hervorhebungen Lydia Ninz)

[193] „Auch wenn die Behörde offenbar versucht hat, die Tourismusorte im Tiroler Oberland (darunter auch Ischgl) vorerst „aus dem Schussfeld“ zu nehmen und die Infektionen der isländischen Touristen mit einer außerhalb eines Aufenthalts im Tiroler Oberland liegenden Infektionsquelle zu erklären, konnte und durfte die interessierte Öffentlichkeit daraus nicht den Schluss ziehen, dass es sich bei der Information um mehr als eine vorläufige – im Fluss befindliche – Einschätzung einer volatilen Situation handelte. Nach dem Inhalt der Mitteilung war weder auszuschließen, dass ein Teil der Ansteckungen mit SARS-CoV-2 nicht doch schon während des Aufenthalts der isländischen Touristen im Tiroler Oberland erfolgt war, noch ließ sich daraus ableiten, dass es bei einem Aufenthalt in Ischgl derzeit oder in näherer Zukunft zu keinen Ansteckungen kommen könnte. Die interessierte Öffentlichkeit durfte daher nicht darauf vertrauen, dass sich die Isländer keinesfalls im Tiroler Oberland infiziert hätten und/oder dass (daher) ein Aufenthalt in Ischgl mit keiner (besonderen) Infektionsgefahr verbunden wäre. Umgekehrt hätte die richtige und vollständige Mitteilung, nämlich dass einer der isländischen Gäste offenbar bereits vor der Abreise Symptome hatte, auch nicht den Eindruck hinterlassen, dass im Tiroler Oberland eine besondere (also eine gegenüber der allgemeinen, damals schon bekannten, erhöhte) Ansteckungsgefahr bestehe.

OGH Urteil  (Ob 199/22d vom 15.5.2023)

Interpretation: 

Für den OGH steht unstrittig fest, dass die Behörde versucht hat, Ischgl vorerst aus dem Schussfeld zu nehmen, indem sie versucht hat, die Infektionen der Isländer mit einer außerhalb des Tiroler Oberland liegenden Infektionsquelle zu erklären. Die Tatsache, dass die Behörde dabei gelogen hat und dass sie die bereits widerlegte Ansteckungsthese am Rückflug medial verbreitete, stört den OGH in seiner Rechtsprechung aber nicht.

Folgt man dieser Ansicht des OGH, darf eine Behörde von der ihr bekannten, wahren Gefahren-Quelle ablenken, selbst wenn es um eine ansteckende todbringende Krankheit handelt wie bei Covid. Vorausgesetzt, die Mitteilung darüber ist vage genug formuliert. Nach dieser Auffassung wäre es Ziel und Zweck einer Krisenkommunikation, Verunsicherung zu schaffen! Das kann es wohl nicht sein. Frage an alle Rechtsexperten:

Gibt es tatsächlich keine rechtliche Möglichkeit mehr, eine derartige Tatsachenverdrehung von Behörden zu ahnden?

Dass bei einer „richtigen und vollständigen“ Mitteilung in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck hinterlassen worden wäre, dass im Tiroler Oberland eine besondere Ansteckungsgefahr bestehe, darf bezweifelt werden.

Erstens war es nicht ein einziger Isländer, der bereits in Ischgl Krankheitssymptome hatte, sondern ein zweiter, wie aus besagtem E-mail des Gesundheitsministeriums von 15:18 hervorgeht.

Zweitens war diese Kommunikation über die Risikosituation im Tiroler Oberland insofern nicht vollständig, weil ja bereits am selben Donnerstag 5. März 2020 – ein paar Stunden vorher – ein akuter Covid-Fall im Bezirk Landeck amtlich bestätigt worden war, ein norwegischer Student in Pettneu, der zuvor in Ischgl und im Kitzloch gewesen war. Und  der Bezirk Landeck gehört zum Tiroler Oberland.

Wenn man bei der Darstellung der aktuellen Gefahrensituation schon auf das gesamte Tiroler Oberland abstellt, hätte man jedenfalls auch auf den aktuellen Covid-Fall des norwegischen Studenten in Pettneu Bezug nehmen müssen.

Zumal bei dem erkrankten norwegischen Studenten gleich drei Kontaktpersonen identifiziert wurden, die mit ihm zusammenlebten. Was den OGH betrifft so stellt sich die Frage, warum er diesen Covid-Fall in Pettneu in seiner Rechtsprechung nicht berücksichtigt hat. Wurde da etwas übersehen oder wurde ihm dieses Faktum nicht vorgelegt?

Zusammenfassend

Das alte, damals geltende Epidemiegesetz zielte nach Ansicht des OGH primär darauf ab, die Ausbreitung einer ansteckenden und anzeigepflichtigen Krankheit zu verhindern. Bei Gesamtbetrachtung der Situation im Tiroler Oberland am frühen Abend des Donnerstag 5. März 2020 zeigt sich folgende Lage:

14 aus Ischgl abgereiste und nachweislich covidkranke Isländer, von denen zwei schon vor ihrer Abreise aus Ischgl krank gewesen sind. Plus ein akuter neuer Covid-Fall eines norwegischen Studenten in Pettneu, der in Ischgl gewesen war mit gleich drei weiteren Verdachtsfällen.

In so einer Situation hätte eine verantwortungsbewusste Landesregierung wohl anderes zu tun gehabt, als mit Nebelgranaten die wahre Situation zu verschleiern und die eigene Bevölkerung und anreisende Gäste in die Irre zu führen. 

Zur Ehrenrettung der Tiroler Landesregierung sei daran erinnert, dass sie es auch anders konnte: Am 23 Februar 2020 hatte sie einen aus Italien kommenden Zug stundenlang am Brenner gestoppt, weil man zwei Verdachtsfälle von Covid vermutete! Und am 25. Februar hatte man in Innsbruck wegen einer erkrankten Hotelangestellten und ihren Freund sofort ein ganzes Hotel gesperrt und mit umfangreichen Contact-Tracing begonnen.