EuGH gibt Weg frei für Millionen Klagen

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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) katapultiert mit seinem Urteil vom 8. November 2022 (C-873/19) den Abgasskandal in neue Dimensionen und stärkt Verbraucherklagen den Rücken. Konkret hat der EuGH der Deutschen Umwelthilfe (DUH) den Weg frei gegeben für 119 Klagen gegen die deutsche Zulassungsbehörde. Diese hat Millionen von Dieselautos in ganz Europa zugelassen, obwohl deren Abgasreinigung (AGR) überwiegend ausgeschaltet bleibt, darunter auch alle VW Betrugsdiesel nach dem Software-Update. Deutlich wie nie hat der EuGH bekräftigt, dass Autos mit solch temperaturabhängigen Abschalteinrichtungen („Thermofenster“) jedenfalls illegal sind, wenn sie dafür sorgen, dass die Abgasreinigung die meiste Zeit im Jahr („überwiegend“) nicht voll funktioniert. Am Zug ist nun die deutsche Justiz. Kommt die DUH mit ihren Klagen durch – womit aufgrund der bisherigen EuGH-Urteilen eigentlich zu rechnen ist – wären aber europaweit Millionen von Dieselautos plötzlich ohne Zulassung, auch in Österreich. Sie müssten entweder auf Kosten der Hersteller mit Hardware nachgerüstet oder womöglich verboten werden, prognostiziert Dr. Axel Friedrich, der mit seinen Messungen und seiner technischen Expertise die treibende Kraft hinter den DUH-Klagen war und ist.

Blenden wir zurück. Im September 2015 flog durch die amerikanische Umweltbehörde auf, dass VW bei seinen Dieselautos mit dem Motor EA 189 betrügt. Nur auf dem Prüfstand fuhren diese Autos im Saubermodus (Modus 1) und erfüllten die strengen Abgasgrenzwerte (für Stickoxid, NOX). Auf der Straße schalteten sie auf den Schmutzmodus um (Modus 0), pfefferten jede Menge gesundheitsschädliches Abgas in die Luft und sprengten die erlaubten Grenzwerte bis zum 33-Fachen. Im Juni 2016 genehmigte die deutsche Zulassungsbehörde  („Freigabe“), das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die sogenannten Software-Updates, mit denen der Betrug beseitigt werden sollte. Dabei wurde nur der Umschalter vom Sauber- zum Schmutzmodus entfernt. Das KBA genehmigte dabei aber ausdrücklich, dass die Abgasreinigung (AGR) nur bei Außentemperaturen von 15 bis 33 Grad voll funktioniert, ab -9 Grad komplett weggeschaltet wird und zwischen -9 und +11 Grad nur zu 85% arbeitet. Das Ergebnis: in Deutschland mit einer durchschnittlichen Temperatur von 10,4 Grad funktionierte die Abgasreinigung die meiste Zeit im Jahr nicht voll, sodass die Software-Updates kaum nennenswerte Umweltverbesserungen brachten. (Noch schlimmer ist es in Österreich mit noch niedrigeren Jahresdurchschnittstemperaturen).

Schon im November 2016 klagte die DUH beim Verwaltungsgericht Schleswig gegen diese Freigabebescheide des KBA und gegen die Zulassungsbescheide anderer Autohersteller wie Opel, Daimler, Renault usw., die in ihren Dieselautos solche „Thermofenster“ eingebaut hatten und dies mit dem Motorschutz begründeten. Die DUH blitzte mit ihren Klagen im April 2018 ab. Argument: die DUH sei zu solchen Klagen nicht berechtigt. Außerdem sei so eine Abschaltung ausnahmsweise zur Schonung des Motors zulässig. Die DUH gab nicht auf und so landete das Ganze beim EuGH.

Bereits in seinen früheren Urteilen hatte der EuGH die Ausrede Motorschutz vom Tisch gefegt. Im aktuellen Urteil begründet er seine Haltung deutlicher denn je: wenn man eine Abgasreinigung die meiste Zeit im Jahr deswegen ausschalten muss, um den Motor zu schützen und den sicheren Betrieb des Autos zu gewährleisten, widerspricht das völlig dem Ziel der Abgasreduktion. Eine Ausnahme zur Regel zu machen, sei jedenfalls illegal, so der EuGH.

Die DUH selbst, die das neueste Urteil als “Paukenschlag” und als “Meilenstein” feiert, fasst es wie folgt zusammen:

• Höchstrichterliches Urteil in der Dieselgate-Affäre: Deutsche Umwelthilfe hat das Recht, gegen Typgenehmigungen des Kraftfahrt-Bundesamtes vorzugehen

• EuGH bestätigt zudem: Die mit ausdrücklicher Erlaubnis der Fachbehörde des Bundesverkehrsministeriums weiter betriebenen Abschalteinrichtungen bei im Winterhalbjahr üblichen Außentemperaturen sind rechtswidrig

• Ohrfeige für Kraftfahrt-Bundesamt, Bundesverkehrsminister und Dieselkonzerne, die rechtswidrig Millionen Besitzer von Betrugsdiesel-Pkw und Geschädigte durch Luftverschmutzung um ihre Rechte bringen

• DUH fordert von Bundesverkehrsminister Wissing: Kraftfahrt-Bundesamt muss nun sofort die betroffenen mindestens fünf Millionen Diesel-Pkw und Nutzfahrzeuge zur Hardware-Nachrüstung mit Entschädigung der Halter zurückrufen – ohne Hardware-Nachrüstung sind die Autos zwingend gegen Entschädigung der Halter stillzulegen